"Das Volk der Bäume" ist ein Buch wie kein anderes. Das beginnt schon mit der ungewöhnlichen Erzählweise, welche Yanagihara wählt, um die Geschichte von Norton Perina zu erzählen: Es handelt sich um die Aufzeichnungen von Perinas Assistent, der selbst sozusagen eine Geschichte in der Geschichte schreibt, aus subjektiver Sicht seines Kollegen. Klingt erst einmal kompliziert, verleiht dem Ganzen jedoch die nötige Distanz, um auch Tabuthemen wie Pädophilie auf den erzählerischen Tisch zu bringen.
Im Forschungsrausch des Unentdeckten
Stets hat man das Gefühl, in einer Art wissenschaftlichen Tagebuch der Expedition zu lesen, welches untermalt ist mit (fiktiven) akademischen Erläuterungen und Randbemerkungen über die Insel und ihre Bewohner:innen. So macht es Yanagihara uns wirklich schwer, im Kopf zu behalten, dass alles, was wir gerade lesen, nicht der Realität entspricht - so gut sind die theoretischen Fakten ausgearbeitet. Selbst ein Vokabelglossar der erfundenen Sprache der Ivu’ivu findet man im Anhang. Teilweise können die doch ziemlich ausufernden Fußnoten den Lesefluss etwas stören, da sie allerdings nicht zwangsläufig handlungsrelevant sind, kann man sie tatsächlich auch einfach überspringen
Genie oder Monster?
Da bereits im Klappentext angedeutet, ist es nicht zu viel verraten, wenn wir auch den weiteren Verlauf der Geschichte beleuchten: Norton Perina entdeckt auf der Insel nicht nur bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch seine mehr als zweifelhafte Liebe zu Kindern. Der zweite Teil des Romans handelt also nicht nur vom Zerfall der Insel Ivu’ivu, sondern auch vom dunklen Teil Perinas - seinem Leben mit den zahlreichen Adoptivkindern, die er von der Insel rettete. Vorbild für Yanagiharas Antiheld war tatsächlich der amerikanische Nobelpreisträger Daniel Gajdusek, der akademischen Weltruhm mit seinen Entdeckungen erlangte, am Ende seines Lebens jedoch zu einer Gefängnisstrafe wegen Pädophilie verurteilt wurde. Auch hier liegt dem Buch eine extreme Spannung inne, da die Leser:innen bis zum Schluss im Ahnungslosen bezüglich Perinas Unschuld gehalten werden.
Fazit: Hanya Yanagihara versteht es wie keine Zweite, ihre Leser:innen in die Untiefen der menschlichen Abgründe zu führen. Von der ersten Seite an wird man förmlich in die Dschungelwelt von Ivu’ivu hinein gesogen und hat kaum eine Chance, sich den Geheimnissen der Insel zu entziehen. Das Buch lässt einen gleichzeitig fasziniert, aber auch absolut fassungslos zurück - vor allem, da der heftigste Twist erst auf den letzten Seiten lauert.